Survivorship Bias: Warum Sie Marketing-Erfolge nicht kopieren können

Jedes Jahr erscheinen sie aufs Neue: Buchveröffentlichungen, in denen die Erfolgsgeheimnisse von Unternehmern, Sportlern und Künstlern analysiert werden. Es sind Leitfäden für den Erfolg. Doch Erfolg bescheren diese Bücher vorwiegend ihren Autoren. Die Mehrheit der Leser scheitert, obwohl sie die beschriebenen Erfolgsrezepte von Steve Jobs, Dirk Nowitzki und Lady Gaga konsequent umsetzen. Doch warum?

Die Erfolgsrezepte selbst sind fehlerhaft. Die Autoren der Bücher unterliegen dem Survivorship Bias: Indem sie nur das Leben erfolgreichen Protagonisten betrachten, verzerren sie ihre Analyse. Denn oft haben auch viele gescheiterte Unternehmer, Sportler und Künstler dieselben vermeintlichen „Erfolgsgeheimnisse“ angewendet – nur ohne jeden Erfolg.

Survivorship Bias: Definition und Hintergrund

Der Survivorship Bias gehört zu den gut erforschten kognitiven Verzerrungen in der Psychologie. Weil Erfolge im Alltag eine größere Sichtbarkeit genießen, überschätzen Menschen systematisch ihre eigenen Erfolgschancen. Beispiele lassen sich in jedem Lebensbereich finden.

Definition

Als Survivorship Bias (Survivor Bias, Überlebenseffekt) bezeichnen Psychologen die Tendenz des Menschen, sich auf Menschen oder Inhalte zu konzentrieren, die einen wie auch immer gearteten Auswahlprozess erfolgreich durchlaufen haben. Dies führt zu diversen Fehlschlüssen und infolgedessen dazu, dass (eigene) Erfolgsaussichten systematisch überschätzt werden.

Der Begriff Survivorship Bias wurde zum ersten Mal von Ingenieuren der Alliierten im Zweiten Weltkrieg verwendet.

Bei der Analyse, wie sie ihre Flugzeuge besser gegen Angriffe des Gegners panzern konnten, bemerkten sie, dass ihre Verbesserungen keine Wirkung zeigten, obwohl sie die Stellen verstärkten, in der die zurückgekehrten Flieger die meisten Einschusslöcher aufwiesen. Erst als sie die Panzerung verstärkten, an denen die zurückgekehrten Flugzeuge keine Treffer zeigten, erhöhte sich die Zahl der heimgekehrten Piloten. Denn genau an diesen Stellen hatten Einschüsse fatale Wirkung: Wurden die Flugzeuge dort getroffen, stürzten sie ab. Daher zeigte von den zurückgekehrten Flugzeugen auch kaum eines dort Treffer.

Der Survivor Bias hatte den Blick der Ingenieure zunächst auf die Überlebenden, die zurückgekehrten Flugzeuge, verengt. Erst als sie alle Flugzeuge, auch die abgestürzten, in ihre Überlegungen aufnahmen, fanden sie die tatsächlichen Schwachstellen.

Survivorship Bias: Beispiel aus Wirtschaft, Finanzen und Medizin

Doch um Beispiele zu finden, wie der Blick auf die Erfolgreichen unser Denken verzerrt, müssen wir nicht bis zum Zweiten Weltkrieg zurückgehen.

Fondsgesellschaften entfernen regelmäßig erfolglose Fonds aus ihrem Portfolio, sodass sie deren schlechte Ergebnisse nicht mit in die Bilanz des Gesamtportfolios einfließen. Für Anleger erscheint die Performance des Fonds auf den ersten Blick damit besser, als sie tatsächlich ist, würden sie auch die verlustreichen Fonds in der Statistik berücksichtigen.

Startup-Investoren stehen regelmäßig unter dem Einfluss des Survivorship Bias. In einschlägigen Medien wird Monat für Monat über Milliarden-Exits berichtet. Überlegen Sie in das nächste Google, Amazon oder Apple zu investieren? Dann lösen Sie sich von Ihrer Euphorie. Denn die Mehrheit der Startups scheitert. Neun von zehn Startups gehen pleite – nur wird über die gescheiterten Gründungen nicht berichtet. Das Risiko, dass Sie Ihr Geld in der Startup-Welt verlieren, ist hoch – selbst wenn Ihnen die Berichterstattung etwas anderes vermittelt.

In der Medizin spielt der Survivorship Bias eine wichtige Rolle in der Beurteilung von Überlebensraten, zum Beispiel bei Krebserkrankten. Wenn die Patienten unmittelbar nach ihrer Diagnose versterben, werden sie von der Stichprobe einer Studie häufig gar nicht erst erfasst, was die Überlebenschancen positiv verzerrt.

Survivorship Bias: Beispiele aus dem Marketing

Auch im Marketing besteht die Gefahr, dem Survivorship Bias auf den Leim zu gehen. Hier einige beispielhafte Situationen, in denen es zu dem Denkfehler kommen kann:

Sollten Sie erfolgreiche E-Mail-Templates anderer Marketer übernehmen?

Im Netz werden viele Erfolgsberichte veröffentlicht à la „Mit diesem E-Mail-Template haben wir unsere Umsätze um 200 % in einem Monat steigern können“. Machen Sie sich bewusst, dass die Berater und Agenturen, die mit dem gleichen Template keine signifikanten Erfolge erzielt haben, auch keine Artikel darüber veröffentlichen. Lohnt es sich dann überhaupt, solche Vorlagen anzusehen? Ja, holen Sie sich Inspiration, aber betrachten Sie die Information im Kontext und prüfen Sie zudem, welches Eigeninteresse der Autor mit der Veröffentlichung seines „Geheimnisses“ verfolgt. Selten findet die Veröffentlichung aus rein altruistischen Motiven statt. Wenn Sie eine Strategie übernehmen wollen, adaptieren Sie sie für Ihre Zielgruppe, Ihr Produkt und Ihre Branche.

Wie gehen Sie am besten mit Umfrage-Ergebnissen um?

Nah am Kunden sein, ist immer eine gute Idee. Wer in der Kommunikation bleibt, erkennt Schwachstellen am Produkt und kann Stammkunden, die bereits verärgert sind, möglicherweise überzeugen, der eigenen Marke noch eine Chance zu geben. Umfragen sind allerdings nur bedingt geeignet, um ein realistisches Stimmungsbild einzufangen: Denn in der Regel nimmt nur ein Bruchteil von Kunden an Umfragen teil und vor allem die emotional aufgewühlten (positiv oder negativ) melden sich zu Wort.

Ist das Kundenfeedback überwiegend negativ, sollten Sie Ihre Aktivitäten daher nicht blindlings umlenken, um die Kritiker zu besänftigen. Ist das Feedback überwiegend positiv, wiegen Sie sich nicht in falscher Sicherheit, sondern reflektieren Sie die Stichprobe und die Aussagekraft der Umfrage kritisch. Um ein möglichst umfassendes Bild zu erhalten, ist es sinnvoll, ehemalige Kunden in das Umfrage-Sample einzubeziehen. Denn auch das ist zu bedenken: Ihre aktuellen Kunden sind in gewissem Sinne auch „Survivors, da sie zumindest so zufrieden mit Ihrem Produkt sind, dass sie es bisher weiter kaufen.

Wie sinnvoll ist es, (Marketing-)Strategien erfolgreicher Unternehmer zu kopieren?

Zalando hatte Erfolg mit dieser Strategie, bei Facebook funktioniert das Vorgehen seit Jahren – Marketing-Strategien erfolgreicher Unternehmen zu kopieren, führt dennoch oft am Ziel vorbei. Warum?

Zum Beispiel, weil Korrelationen keine Kausalitäten sind. Nur weil bei Firma A orangefarbene Buttons am besten konvertieren, heißt das nicht, dass dies auch bei Ihrem Unternehmen funktioniert. Nur weil Bill Gates und Steve Jobs ihr Studium abgebrochen haben, ist ein Universitätsabschluss noch lange nicht hinderlich, um eine Firma zu Welterfolg zu führen. Die Statistiken sprechen vielmehr für das Gegenteil: Wer sein Studium abbricht, scheitert oft auch als Gründer.

Wenn Sie Strategien adaptieren wollen, versuchen Sie immer Vorbilder mit möglichst ähnlichen Rahmenbedingungen zu finden. Was im Immobiliensektor zielführend ist, hat womöglich keine Relevanz für einen Online-Getränkehandel oder einen Software-Anbieter. Testen Sie dann die Erfolgsstrategie, die Sie zu erkennen glauben, und optimieren Sie sie anhand Ihrer eigenen Ergebnisse aus der Praxis.

Warum sind Menschen für den Survivorship Bias anfällig?

Das menschliche Gehirn ist evolutionär darauf programmiert, Abweichungen zu entdecken. Deswegen faszinieren uns Geschichten von erfolgreichen Außenseitern. Deswegen bleiben uns Informationen über Erfolge stärker im Gedächtnis als andere Nachrichten. Denn die meisten uns gehören nicht zur Gruppe der Erfolgselite.

Da sich Erfolgsschlagzeilen gut verkaufen, füttert auch die Medienberichterstattung ihre Kanäle mit entsprechenden News und verstärkt unsere Tendenz, vor allem die Erfolgreichen wahrzunehmen.

Nicht zuletzt gibt Menschen die Orientierung an den Erfolgreichen ein Gefühl von Kontrolle. Wir wollen glauben, dass es Rezepte zum Erfolg gibt. Wenn wir uns den Survivorship Bias bewusstmachen, müssen wir schmerzhaft erkennen, dass die vermeintlich einfachen Formeln nicht existieren, sondern auch Glück und Zufall und viele individuelle Faktoren eine entscheidende Rolle spielen.

Wie Sie mit dem Survivorship Bias im Marketing souverän umgehen

Der Survivorship Bias ist eine kognitive Verzerrung, die Sie bei Marketing-Maßnahmen immer berücksichtigen sollten. Ob Sie sich an bekannten Marken orientieren oder Ihre eigenen Daten analysieren, der Survivorship Bias kann Ihr Urteilsvermögen trüben. Er ist aber kein unausweichliches Schicksal und Studien und Analysen verlieren dadurch nicht ihre Berechtigung. Wenn Sie sich des Denkfehlers bewusst sind, können Sie sich vom Survivorship Bias im Marketing befreien:

  • Hinterfragen Sie Erfolgsgeschichten: Kann überhaupt von Kausalität gesprochen werden? Handelt es sich um eine Ausnahme? Wie wahrscheinlich ist das Ergebnis, wenn man das Vorgehen reproduziert?
  • Erweitern Sie Ihren Fokus: Prüfen Sie vorab, dass Ihre eigenen A/B-Tests, Umfragen und Erhebungen nicht nur die „Survivors“ betrachten, sondern die gesamte Datenbasis berücksichtigen.
  • Stellen Sie häufiger die Frage „Warum?“: Marketer interessieren sich vor allem für das Wie. Wie haben es andere geschafft? Wie können wir unsere Ziele erreichen? Mit der gründlichen Analyse eigener und fremder Ergebnisse haben Sie mehr Erfolg als mit dem oberflächlichen Kopieren vermeintlicher Erfolgsrezepte.
Hinweis

Neben dem Survivorship Bias gibt es eine Reihe weiterer kognitiver Verzerrungen, die Sie als Marketer kennen sollten. Wir stellen Ihnen die wichtigsten vor, zum Beispiel den Ankereffekt, den Halo-Effekt, den Decoy-Effekt, den Confirmation Bias, den Hindsight Bias und den Selection Bias.