Human-Centered Design: Nutzerfreundliche Produkte, die tatsächliche Probleme lösen

Beim Projektteam kam die neue App super an, doch die Verkäufe bleiben meilenweit hinter den Erwartungen zurück – viele Unternehmen müssen nach einer langen und kostspieligen Entwicklungszeit feststellen, dass sie die Bedürfnisse und Erwartungen von Nutzern verfehlt haben. Sie haben entweder ein Problem gelöst, das Nutzer gar nicht als solches empfinden, oder ihre Umsetzung hat gravierende Schwächen.

Human-Centered Design minimiert die Fragezeichen im Entwicklungsprozess, indem die Nutzer von Beginn an in die Entstehung eines neuen oder verbesserten Produkts involviert werden.

Human-Centered: Eine Definition

Entstanden ist das Human-Centered Design, um die Produktentwicklung zu verbessern und Fehler in der Produktausrichtung zu vermeiden. Definiert ist der Begriff in der ISO-Norm 9241-210:2019 (Englisch).

Definition: Human-Centered Design

Human-Centered Design ist ein Ansatz in der Entwicklung interaktiver Systeme, der darauf abzielt, diese Systeme nutzerfreundlich und nützlich zu gestalten. Dazu stellt er Anwender mit ihren Bedürfnissen und Erwartungen in den Mittelpunkt und berücksichtigt den menschlichen Faktor sowie Wissen und Methoden zur Usability.

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Die Ursprünge des Begriffs Human-Centered Design lassen sich nicht eindeutig zurückverfolgen. Das Konzept, die Nutzer konsequent und von Beginn an in den Mittelpunkt der Produktentwicklung zu stellen, existiert jedoch bereits seit den 1990er-Jahren.

In der digitalen Welt hat das Human-Centered Design aufgrund des hohen Wettbewerbs- und Budgetdrucks in den vergangenen Jahren an Verbreitung gewonnen. Unternehmen können es sich nicht mehr leisten, monatelang in eine Website-Überarbeitung zu investieren, die nach ihrem Launch nicht zu signifikant höheren Conversions führt, oder ein Produkt auf den Markt zu bringen, das zum digitalen Ladenhüter wird, weil es aus Nutzersicht zu kompliziert ist.

Ähnliche Konzepte und Begriffe

Im Webdesign und in der Webentwicklung wird auch der Begriff User-Centered Design verwendet. Häufig handelt es sich um eine synonyme Verwendung mit dem des Human-Centered Designs. Bei genauerer Betrachtung existieren feine Unterschiede zwischen beiden Konzepten: Während im User-Centered Design der konkrete zukünftige Anwender in den Blick genommen wird, bezieht Human-Centered Design auch weitere Stakeholder mit ein, die mit der Anwendung bzw. dem Produkt interagieren. Bei einer App für Paketauslieferer beispielsweise werden nicht nur die Zusteller befragt, sondern auch die Paketempfänger sowie die Mitarbeiter, die die Daten der App im Speditionsunternehmen weiterverarbeiten und auswerten. Bei einer Spiele-App für Kinder werden auch die Eltern bzw. Aufsichtspersonen involviert.

User Experience Design ist ein weiterer ähnlicher Begriff. Auch hier geht es darum, die Benutzererfahrung zu verbessern, das Produkterlebnis angenehmer und die Anwendung intuitiver zu gestalten. Die Maßnahmen setzen jedoch erst an, wenn die Grundzüge des Produkts bereits vom Projektteam entschieden sind. Anders im Human-Centered Design, in dem der Nutzer in die Produktentwicklung eingebunden wird.

Ein dem Human-Centered Design ebenfalls ähnliches Konzept ist das Design Thinking. In beiden Fällen stehen die Anwender im Mittelpunkt, in beiden Fällen wird von Beginn an mit den potenziellen Nutzern gesprochen und werden Prototypen iterativ verbessert. Während Human-Centered Design jedoch auf die Usability und die User Experience fokussiert ist, findet Design Thinking eher Verwendung in der Entwicklung ganz neuer kreativer Produkte. Die Methode ist dafür konzipiert, bestehende Lösungen zu hinterfragen und Innovationen zu entwickeln.

Prinzipien des Human-Centered Design

Die ISO-Norm listet in ihrer Fassung von 2019 sechs Prinzipien auf, die Human-Centered Design ausmachen:

  1. Das Design basiert auf einem expliziten Verständnis von Benutzern, Verwendung und Umgebung: Entwickler sollten nicht nur die Nutzer verstehen, sondern auch, wofür und wie diese das Produkt verwenden wollen und in welcher Umgebung es zum Einsatz kommen wird.
  2. Die Anwender werden während der gesamten Design- und Entwicklungsphase einbezogen: Potenzielle Nutzer werden kontinuierlich in den Prozess der Produktentwicklung eingebunden. Statt sie eine Idee und einen Prototypen bewerten zu lassen, sollen ihre Bedürfnisse erforscht und direkt in die Ausgestaltung des Produkts integriert werden. Hierzu können Feldstudien (Beobachtungen) zu Beginn des Projekts und User-Tests nach Fertigstellung einer ersten Produktversion dienen.
  3. Das Design wird durch eine benutzerzentrierte Bewertung vorangetrieben und verfeinert: Das Prinzip betont, dass User-Tests nicht nur am Ende des Entwicklungsprozesses stehen, sondern integraler Bestandteil der Produktentwicklung sein sollen. Bereits wenn erste Entwürfe auf Papier vorliegen oder grundlegende Mock-ups vorhanden sind, sollte das Feedback von Nutzern berücksichtigt werden.
  4. Der Prozess ist iterativ: In vielen Fällen können Nutzer von sich aus nicht eindeutig formulieren, was sie benötigen und welches Produkt sie sich vorstellen. Die optimale Lösung muss sich vielmehr durch Feedbackschleifen und im Dialog herauskristallisieren. Um diesem Prinzip gerecht zu werden, sind agile Methoden am besten geeignet.
  5. Das Design berücksichtigt die gesamte User Experience: In der Vergangenheit wurde die Nutzererfahrung vielfach mit intuitiver Bedienbarkeit assoziiert, aber zu einer guten User Experience gehört mehr. Ziel sollte sein, diese so einfach und angenehm wie möglich zu gestalten, positive Emotionen hervorzurufen und dem Anwender Lust auf eine wiederholte Nutzung zu machen.
  6. Im Designteam sind multidisziplinäre Fähigkeiten und Perspektiven vertreten: Entwicklungsteams sollten aus Experten verschiedener Disziplinen bestehen. Nur wenn Grafikdesigner, Copywriter, Programmierer und Usability-Experten zusammenkommen und ihre unterschiedlichen Perspektiven einbringen, können blinde Flecken erkannt werden und kann Human-Centered Design gelingen.

4 Phasen im Human-Centered-Design-Prozess

Das Human-Centered Design kennt vier Aktivitäten oder Phasen, die den Entwicklungsprozess strukturieren:

  1. Verstehen und Beschreiben des Nutzungskontexts
  2. Definieren der Nutzungsanforderungen
  3. Entwerfen der Gestaltungslösungen
  4. Testen und Evaluieren der Lösungen

Wie sich diese Phasen in der Praxis darstellen, lässt sich am einfachsten mithilfe eines Beispiels veranschaulichen.

Praxisbeispiel: Der Prozess des Human-Centered Designs in der App-Entwicklung

Unternehmen ABC will für einen großen Konzern eine mobile App für das bestehende Zeiterfassungssystem entwickeln. Bisher ist keine mobile Lösung vorhanden.

  1. Verstehen und Beschreiben des Nutzungskontexts: Bevor sich das Projektteam an die Entwicklung der App macht, spricht es mit den zukünftigen Nutzern, den Mitarbeitern des Betriebs. Wie wird die Zeiterfassung bisher gelöst? Welche Probleme tauchen auf? Welche Wünsche haben sie in Bezug auf eine mobile Anwendung? Es stellt sich heraus, dass das Webinterface für das mobile Ein- und Auschecken genutzt wurde, die Navigation auf dem Smartphone jedoch umständlich war und häufiger Fehler auftraten. Viele Mitarbeiter sind wenig technikaffin und betonen, eine einfache Handhabung habe Priorität.
  2. Definieren der Nutzungsanforderungen: Neben den konkreten Wünschen und Bedürfnissen der Mitarbeiter müssen auch Budget- und Zeitvorgaben sowie die Anforderungen der Geschäftsführung berücksichtigt werden. So soll das bisherige Zeiterfassungssystem beibehalten und nur um eine mobile Komponente erweitert werden.
  3. Entwerfen der Gestaltungslösungen: Erst jetzt beginnt die eigentliche Ausarbeitung eines Prototyps. Die Oberfläche der App ist rollenspezifisch. Die Zeiterfassung kann in jedem Fall innerhalb von nur drei Klicks abgeschlossen werden. Der Funktionsumfang wurde auf das Wesentliche beschränkt, um sicherzustellen, dass auch technisch weniger versierte Mitarbeiter mit der App zurechtkommen.
  4. Testen und Evaluieren der Lösungen: Erste Mock-ups werden einer Gruppe von Mitarbeitern vorgelegt. Feedback wird eingeholt und in die weitere Ausarbeitung integriert. Bei jedem größeren Entwicklungsschritt wird noch einmal Feedback eingeholt, bis schließlich die finale Anwendung steht.

Auch innerhalb einzelner Phasen können Iterationen erfolgen. Mit welchen Methoden der Human-Centered-Design-Prozess durchlaufen wird, ist nicht vorgeschrieben. Unternehmen können die Methoden für Feldforschung, Ideenentwicklung und Produkttests nutzen, die sich in ihrer Praxis bewähren.

Warum es sich lohnt, den Mensch in den Mittelpunkt zu stellen

Human-Centered Design bietet viele Vorteile – für Unternehmen und Anwender. Es lässt sich sowohl für die Entwicklung physischer als auch digitaler Produkte verwenden. Letztere profitieren in besonderer Weise von dem Ansatz, da ihr Erfolg entscheidend von der Interaktion mit den Nutzern abhängt.

  • Verbesserte Produktivität: Entwickler können ihre Ressourcen durch das schnelle Feedback zielführender einsetzen.
  • Niedrigere Schulungskosten: Anwendungen, die in einem nutzerzentrierten Prozess entstehen, sind intuitiv verständlich, sodass Support- und Trainingskosten nach der Veröffentlichung sinken.
  • Wettbewerbsvorteil: Unternehmen gelingt es mit diesem Ansatz, besser auf die tatsächlichen Bedürfnisse von Nutzern einzugehen und Anwendungsprobleme zu lösen als Wettbewerber, die nur fertige Produkte testen und verbessern.
  • Hohe Kundenzufriedenheit: Der Prozess resultiert in einer sehr guten User Experience, die nur mit wenigen anderen Methoden in gleicher Qualität zu erreichen ist.
  • Weniger Stress: Das regelmäßige Feedback der Nutzer senkt das wirtschaftliche Risiko, was die Arbeitsatmosphäre entspannt und sich positiv auf die Kreativität des Projektteams auswirkt. Den Anwendern wird ebenfalls Stress erspart, da sie ein Produkt erhalten, das bestimmte Probleme löst und leicht zu verwenden ist.

Was Kritiker am Human-Centered Design bemängeln

Einige Kritiker bemängeln, dass die radikale Fokussierung auf die Nutzerbedürfnisse die Perspektive der Entwickler verengt und echte technologische Innovation behindert.

Ähnlich argumentieren die Stimmen, die darauf hinweisen, dass sich die Lebenswirklichkeit der Menschen und damit ihre Herausforderungen heute extrem schnell verändern und alle Beobachtung und Befragung ins Leere führt, wenn die Produktentwicklung nicht zeitnah abgeschlossen wird. Denn sonst haben sich die Probleme, die das Produkt lösen will, bei Veröffentlichung bereits verändert.

Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die globale Perspektive des Ansatzes. Er berücksichtige zu sehr Kontext und Stakeholder und sei damit nicht gut geeignet, Lösungen passgenau für eine spezifische Zielgruppe zu entwickeln.

Relevanz und Zukunftsperspektive

Die Begriffe User Experience und Usability sind in Webdesign und -entwicklung allgegenwärtig. Unternehmen, die ihre Produkte im Elfenbeinturm entwickeln, sind eine aussterbende Art. Human-Centered Design bindet die Nutzerzentrierung konsequent von Anfang bis Ende in die Produktentwicklung ein.

Viele Unternehmen, die agile Methoden anwenden, folgen bereits dem Human-Centered-Design-Ansatz, selbst wenn sie es nicht explizit so benennen. Die Frage wird in Zukunft nicht sein, ob Nutzerzentrierung einen Platz im Design- und Entwicklungsprozess hat, sondern, wie die Konzepte des Human-Centered Design effektiv in der Praxis umgesetzt werden können.

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